Eines ist gewiss: die technologische Entwicklung lässt sich auch im Sportbereich nicht aufhalten, und wenngleich sich viele Athleten, Trainer und Schiedsrichter die guten alten Zeiten zurückwünschen, liegt die Zukunft in intelligenten Systemen, computergesteuerten Analysen und Videotechnologie – besonders, wenn es um Entscheidungen auf einem Spielfeld geht. Die Kritik am Video Assistant Referee – kurz VAR genannt – ist nach wie vor laut im deutschen Fußball, wenngleich die Technologie in anderen Sportarten und vor allem in den USA seit langem etabliert und absolut akzeptiert ist. Wo liegen die Grenzen der Digitalisierung des Sports, und schafft sie mehr Fairness – oder ist das Gegenteil der Fall?
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Analytik ist aus keinem wirtschaftlichen Bereich mehr wegzudenken – Unternehmen messen mittels intelligenter Tools Erfolg und Rendite, ebenso wie Mitarbeitermotivation und -engagement. Auch im privaten Bereich setzten immer mehr Menschen auf schlaues „Tracking“ beispielsweise mittels Tablets und Smart-Watches, die die sportliche Leistung analysieren und Fortschritte numerisch ermitteln. Auch aus dem Profisport sind derartige Analysen nicht mehr wegzudenken – wenngleich die Akzeptanz hier nicht allseits hoch ist.
Gerade im Fußball gibt es eine Menge Kritik an Schwächen der VAR-Technologie wie auch der damit eigehenden Entmystifizierung des Sports, wie Trainer und Schiedsrichter immer wieder aufzeigen. Werder Bremens Trainer Florian Kohfeldt forderte im vergangenen Jahr ganz öffentlich die Abschaffung des digitalen Schiedsrichter-Assistenten und bezeichnete diesen als „Verschlimmbesserung“, nachdem der 1. FC Köln trotz eines Fouls der Ausgleich gegen Bremen gelang, VAR jedoch dabei nicht griff. Die Ansicht des Trainers: durch die Technologie werden wahnwitzige, abstruse Entscheidungen getroffen, die niemanden glücklich machen.
Auch der einstige „Weltschiedsrichter“ Markus Merk bezeichnete VAR im April dieses Jahres als „Supergau“ in der Bundesliga – zu viele Entscheidungen würden überprüft, und hundertprozentige Fehlentscheidungen blieben dennoch bestehen. Zudem, so kritisierte er, geben aufgrund des Bestehens eines Backup-Systems immer mehr Schiedsrichter die Verantwortung an die Technologie, statt starke Entscheidungen zu treffen – obwohl in den vergangenen 20 Jahren nur zwei Schiedsrichter aus Leistungsgründen entlassen wurden.
Ist der virtuelle Schiedsrichter tatsächlich recht nutzlos oder sträubt man sich im deutschen Fußball ganz einfach gegen eine Innovation, die in vielen anderen Sportarten seit langem etabliert ist? Deutsche Basketballteams ziehen zwar keinen virtuellen Schiedsrichter zu Rate, nutzen aber Instant-Replays zur Analyse von Spielentscheidungen. Da Spiele ohnehin häufige Unterbrechungen haben, fiel die Einführung des Video-Tools jedoch kaum ins Gewicht. Im internationalen Eishockey gibt es bereits seit der Saison 1999/2000 einen Videobeweis – allerdings nur, um zu ermitteln, ob ein Tor regelkonform erzielt wurde, zudem nur während regulären Spielunterbrechungen. Auch im Hockey existiert seit langem ein interessantes Videobeweissystem: jeder Spieler kann ihn anfordern, allerdings pro Match nur einmal pro Team, und nicht wenn es um die Ermittlung der Richtigkeit persönlicher Strafen geht. Lag der Schiedsrichter falsch, darf ein Team erneut einen Beweis einfordern – so lange, bis eine falsche Entscheidung nachgewiesen wurde.
Die Absicht hinter der Digitalisierung des Sports ist eine gute: Technologie und exakte Analysen sollen den Sport fairer machen, aber auch dem Publikum faszinierende neue Einblicke gewähren. Besonders wichtige Bedeutung hat dabei die Formel-1: hier werden detaillierte Sensoren genutzt, um nicht nur die Rennwagen, sondern auch das Geschick des Fahrers zu verbessern. Soll die menschliche Leistung im Vordergrund stehen, muss ermittelt werden, warum manche Automarken häufiger gewinnen als andere. Zudem soll die Analytik per Sensoren sowie der Vergleich mit historischen Daten bessere Aussagen zum Ausgang eines Rennens liefern. Dabei werden beispielsweise Wetterbedingungen, Temperaturen und andere Streckenverhältnisse in Betrachtung gezogen. Besonders spannend ist dies auch für den Bereich Sportwetten – wenn die exakte Bewertung der Wagen, Fahrer sowie der aktuellen Bedingungen im Vergleich zu früheren Events ein weitaus genaueres Tippen ermöglicht und die Gewinnchancen erhöht.
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Zudem verbessert die technologische Entwicklung im Rennsport die Reaktionszeit, was Bau und Verbesserung der Fahrzeuge betrifft. Dank Cloud-Technologie lässt sich mittlerweile innerhalb eines Monats ein neues Auto designen – was im Windtunnel sieben Wochen in Anspruch genommen hätte, kann mittlerweile in 18 Stunden berechnet werden, so ein Analyst des Marktforschungsunternehmens Gartner.
Was in der Formel 1 mehr Fairness und zuverlässigere Aussagen liefern soll, könnte in Zukunftsszenarien eher beängstigen: Auf Branchenmessen wird mittlerweile Technologie vorgestellt, die beispielweise Martial Arts Kämpfer auf Mimik, Gestik, Herzschlag und sogar deren Blicke analysiert und diese Daten virtuell abbildet, um Voraussagen über den Ausgang einer Begegnung zu treffen. Faszinierend klingt das allemal, doch kommt es dadurch zu einer Entmystifizierung des Sports? Und verliert er dadurch ebenso Spannungscharakter wie Überraschungseffekte, wenn sich derartige Voraussagen aufgrund von Datenanalysen treffen lassen? Für viele Fans liegt der Spaß genau an der Unvorhersehbarkeit von Ereignissen – warum überhaupt ein Spiel, ein Rennen oder Turnier ansehen, wenn der Sieger vorab mit relativer Wahrscheinlichkeit feststeht?
Was zudem die Fairness erhöhen soll, kann besonders im Amateurbereich für Ungleichheit sorgen, denn Technologie ist bekanntlich teuer. Viele Vereine nutzen inzwischen elektronische Tools und Apps zur Spielanalyse, umgangssprachlich „Trainerflüsterer“ genannt. Per Tablet, Computer oder Smartphone werden einzelne Sequenzen eines Matches analysiert, der Gegner vorab genau nach Schwächen untersucht und die perfekte Strategie für das nächste Spiel entwickelt. Doch nicht jeder Verein kann sich derartige Tools leisten – was wiederum das Argument der Fairness revidiert: Wer mehr Geld hat, um in Technologie zu investieren, mag dann auf dem Spielfeld besser dastehen. Eine Garantie liefert jedoch ohnehin keine Technologie – Messungen und Analysen gehen nur so weit und können nicht jedes menschliche Verhalten quantifizieren. Der Union-Stürmer Max Kruse beispielsweise ist weder besonders schnell, hat nicht die meisten Ballkontakte und ist auch nicht am aktivsten. Dennoch erzielte er in der Saison 2019/20 in 22 Spielen 11 Tore, ganz einfach, weil er zu bestimmten Zeiten in bestimmten Räumen präsent war – ein spielerischer Mehrwert für sein Team, der sich durch technologische Tools nicht nachweisen ließ.